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Das Hoffen hatte sich ausgezahlt, doch die Sorge blieb. Herr von Unruh war die letzten Tage immer nur für wenige Minuten wach gewesen, gerade genug um ihm ein paar Löffel Suppe oder ein wenig Tee einzuflößen. Alle die sich um ihn kümmerten machten sich noch immer Sorgen, denn so besserte sich der Zustand des Haushofmeisters nur gering. Und solange er nicht richtig Essen konnte, würde sich das auch nicht ändern. Chefkoch Bouche kochte täglich frische Suppen und kräftige Brühen (oder ließ sie kochen) und prahlte jedes Mal damit, dass von Unruh durch sie schon bald wieder zu Kräften kommen würde. Lumiere aber, der doch seine Kochkünste und sein neu erlangtes Wissen über englische Spezialitäten zum Besten geben wollte, schmollte.
„Da `abe ich mich so bemüht und nun muss ich warten…“, maulte er, während er lustlos im Suppentopf herum rührte.
„Lumiere… Das kann doch jetzt nicht dein Ernst sein!“
Madame Pottine stemmte die Hände in die Hüften und sah den jungen Koch mit tadelndem Gesichtsausdruck an. Der aber sah sie gar nicht an, sondern starrte in den Topf, als wenn die Lösung seiner Probleme daraus emporsteigen könnte. Dann jedoch seufzte er und meinte niedergeschlagen: „Madame Pottine… Sie wissen genau, dass es mir nicht um das Essen geht…“
„Tut es nicht?“
Sie lächelte verschmitzt, denn natürlich wusste sie das. Schließlich kannte sie den Mann vor sich schon etliche Jahre, gefühlt sein halbes Leben lang. Aber sie wollte den wahren Grund für seine schlechte Laune aus seinem eigenen Mund hören. Nicht um ihn zu ärgern, oder zu quälen, ganz im Gegenteil. Er war die letzten Tage verschlossen und schweigsam gewesen, was beides einfach nicht seinem Wesen entsprach. Sie hoffte, dass er sich durch ihre Neckerei endlich öffnete und sich seine Sorgen von der Seele redete. Und ihr Plan schien aufzugehen.
„Natürlich nicht! Ich meine, natürlich schon… Auch, aber…“
Genervt warf er den Kochlöffel in den Topf, drehte sich um und ging in der Küche auf und ab, während er nach den passenden Worten suchte. Doch diese schienen sich zu wehren und so lief er ein paar Mal ruhelos hin und her, bis es der Frau zu viel wurde. Sie setzte eine Kanne Tee auf, setzte sich an den großen Tisch und meinte mit ihrem typischen, mütterlichen Lächeln und sanfter Stimme: „Nun komm erstmal her und trink eine Tasse Tee mit mir. Du weißt doch: Es ist alles ein wenig leichter, mit einer guten Tasse Tee.“
Lumiere seufzte erneut, doch er kam um ein Lächeln nicht herum. Und so gab er der Bitte der älteren Dame schließlich nach und lies sich ihr gegenüber auf einen Stuhl fallen, während sie eine Tasse Tee eingoss und sie ihm, immer noch milde lächelnd, zuschob.
So saßen sie eine Weile stillschweigend da und genossen den Tee, der, wie Lumiere feststelle, genau DER Tee war, den auch Henry so gerne trank. Erneut niedergeschlagen stellte er die Tasse ab und sah Madame Pottine an, die ihn fast schon erwartungsvoll ansah.
„Madame Pottine, ich… Ich mache mir Sorgen… Ich weiß, ‘Enry ‘at den Unfall überstanden und die Wunde scheint gut zu ‘eilen, aber… Er ist immer noch so schwach und… Und…“
Er seufzte, stützte die Elenbogen auf den Tisch und verbarg das Gesicht in seinen Händen. Doch nur ein paar Augenblick später warf er den Kopf zurück und stöhnte genervt: „Wie ‘alten Sie das nur aus?“
Fragend sah er sie an, doch als sie nicht darauf antwortete, fuhr er fort.
„Ich meine… Sie und ‘err von Unruh sind doch schon seit Jahren befreundet, no? Wie können sie nur so ruhig bleiben, wo er… Ich meine, er wäre fast…“
Er konnte es nicht. Nein, so sehr er es auch einfach sagen wollte, er brachte es nicht über sich die Worte auszusprechen, einfach zu sagen, was doch so offensichtlich war. Madame Pottine jedoch, tat es.
„Du willst wissen, wie ich die ganze Zeit so ruhig und besonnen bleiben konnte, wo einer meiner ältesten und besten Freunde fast gestorben wäre?“
Beim Ende des Satzes erschauderte Lumiere, nickte dann jedoch.
„Nun…“
Die alte Dame hielt einen Moment inne und starrte in ihre Teetasse.
„Vielleicht war ich es gar nicht…“
„Nun, aber sie waren doch…“
Lumiere hielt verdutzt inne, als ihm bewusst wurde, was Madame Pottine gerade gesagt hatte. Er sah sie an, wie so still da saß und immer noch in ihre Tasse starrte, einen merkwürdig melancholischen Ausdruck auf ihrem Gesicht. Und für diesen Augenblick kam sie Lumiere so viel älter vor und auch irgendwie… Gebrechlicher.
Sie bemerkte seinen fragenden und irritierte Blick und sah auf, nun wieder mit einem sanften Lächeln im Gesicht.
„Es stimmt, was du sagst, Lumiere. Henry und ich sind schon etliche Jahre befreundet, länger als du hier arbeitest.“
„Das dachte ich mir schon.“
Er lächelte, denn er ahnte sofort, dass sie auf das andere Thema nicht näher eingehen wollte. Oder konnte…
So saßen sie erneut schweigend da und genossen ihren Tee, doch während Lumiere seine Tasse leerte, schien er über etwas nachzudenken. Schließlich stellte er seinem Gegenüber eine Frage, dessen Antwort ihn schon lange interessierte.
„Wie kam es eigentlich, dass von Unruh ‚‘ier ‚‘er kam? ‘Aben sie sich schon vorher gekannt? Und… Wie wurden sie beiden Freunde?“
Zugegeben, das war mehr als eine Frage, aber Lumiere wollte zu gerne mehr über seinen besten Freund wissen. Er hatte zwar über die Jahre eine Menge über den Haushofmeister erfahren (und selten von diesem selbst), aber es gab doch noch etliche Lücken in dessen Geschichte.
Madame Pottine lachte ob der ungestillten Neugierde des Mannes. Aber da die Antworten auf seine Fragen ihrer Meinung nach keine Geheimnisse über den gemeinsamen Freund offenbaren würden, war sie nur zu gerne bereit, seine Neugierde zu stillen. Zuerst aber goss sie nochmals Tee nach, dann begann sie zu erzählen.
„Wir haben uns hier kennengelernt, ich war schon mehrere Jahre im Dienst ihrer Majestäten, als er hier ankam. Er sollte von Anfang an die Nachfolge des alten Haushofmeisters antreten, da dieser uhrplötzlich in Rente gegangen war. Und einen so großer Haushalt wie dieser braucht nun mal eine Führung und so kam, auf Empfehlung eines Freundes des alten Haushofmeisters, Herr von Unruh zu uns.“
Sie lachte leise, als sich an damals erinnerte.
„Oh, ich weiß noch genau wie er hier ankam. Der arme Kerl war total nervös und zitterte vor Aufregung. Und nicht nur deswegen...“
Lumiere kicherte in sich hinein. Er konnte sich das nur zu gut vorstellen, dennoch war er gespannt, was die Haushälterin genau damit meinte und was sie noch zu berichten hatte.
Rückblick, Jahre vor dem Fluch:
Es war ein geschäftiges Treiben im Schloss, so wie eigentlich alle Tage. Doch die Bediensteten waren neben all ihrer Arbeit vor allem damit beschäftigt immer wieder die Köpfe zusammen zu stecken und zu tuscheln und auch wenn ihre Aufregung durchaus verständlich war, sorgte sie doch für ein gewisses Durcheinander. Zugegeben, es war in den letzten Jahren nicht mehr allzu häufig vorgekommen, dass ein neuer Diener in den Dienst des Königshauses trat und da dieser Neue über kurz oder lang der neue Vorgesetzte aller Bediensteten werden würde, machte die Ganze Sache nochmal so spannend.
Also wurde an allen Ecken und Enden des Schlosses spekuliert und diskutiert, wer dieser Neue wohl sein würde, ob sie mit ihm auskämen, wie er wohl aussah und noch etliches anderes. Denn der einzige, der irgendetwas über den Neuankömmling wusste, war der alte Haushofmeister gewesen und dieser hatte sich, was dieses Thema betraf, bis zuletzt in Schweigen gehüllt. Doch wenige Tage vor der Ankunft des neuen Haushofmeisters hatte Madame Pottine, die inzwischen ein sehr hohes Ansehen unter den Bediensteten inne hatte, einen Brief bekommen, welcher endlich ein paar Antworten auf ihre Fragen brachte. Allerdings sorgte er auch dafür, dass sie die Ankunft des neuen Haushofmeisters jetzt mit noch mehr Ungeduld erwartete als zuvor.
So vergingen die Stunden, die sich anfühlten als seien es Tage und als sich der Abend näherte, wurden die Bediensteten und auch Madame Pottine immer Ungeduldiger. Und da waren sie nicht die Einzigen…
„MADAME POTTINE!“
Ein wütender Aufschrei durchriss die Stille im Schloss und alle die ihn hörten, zuckten erschrocken zusammen. Denn jeder im Schloss kannte die Stimme ihres Königs und jeder wusste, wenn ihr Herr so lautstark nach jemandem rief, hatte es nichts Gutes zu bedeuten.
Deshalb bemühte sich Madame Pottine auch dem Ruf so schnell es geht zu folgen.
„Ich komme schon euer Hoheit, ich komme schon!“
Aber die Geduld des Königs war begrenzt und so kam er ihr bereits auf der Treppe entgegen.
„Madame Pottine! Ist der neue Haushofmeister schon eingetroffen?“
„Nein Herr, ich kann mir auch nicht erklären…“
Barsch schnitt der König ihr das Wort ab.
„Ich will nichts hören!“
Schon wandte er sich zum Gehen, doch bereits nach ein paar Schritten drehte er sich noch einmal zu der Haushälterin um und schrie: „Aber wenn er schon nicht an seinem ersten Tag pünktlich sein kann, dann kann er auch gleich wegbleiben!“
Damit verließ er wutschnaubend den Raum und lies die Frau einfach stehen.
Als Madam Pottine nach kurzer Zeit das laute knallen einer zugeschlagenen Tür hörte, seufzte sie niedergeschlagen und schüttelte den Kopf.
„Na, das fängt für den Guten ja vielversprechend an…“
Betrübt sah sie aus dem Fenster, wo schon den ganzen Tag nichts als Regengrau zu sehen war. Schlimmer noch, seit der Mittagszeit war aus dem Regenwetter ein richtiges Unwetter geworden. Und langsam aber sicher, begann die Haushälterin sich Sorgen zu machen.
„Es wird ihm auf dem Weg hierher doch nichts passiert sein?“
Kaum dass sie die Worte ausgesprochen hatte, durchbrach ein Blitz die dunklen Wolken, gefolgt von einem so gewaltigen Donnergrollen, das die Fensterscheiben zu erzittern schienen. Aber die Frau hatte kaum Zeit sich von diesem Schrecken zu erholen, denn plötzlich klopfte es an der großen Eingangstür.
Sofort sprang der Hausdiener heran und öffnete diese, dicht gefolgt von Madame Pottine. Allerdings blieben beide ziemlich überrascht stehen als sie den jungen Mann sahen der dort, schüchtern, unsicher und klitschnass, vor der Tür stand.
„Ver… Verzeihung, ich… Ich bin… Ich soll…“
Der Neuankömmling kam nicht dazu viel zu mehr sagen, denn als Madame Pottine den starken englischen Akzent erkannte mit dem er sprach, strahlte sie über das ganze Gesicht. Dann ergriff sie freudestrahlend seine Hand und schüttelte sie mit solchem Elan, das dem Mann vor Überraschung der Mund offen stand.
„Ohh, ihr müsst Herr von Unruh sein, der neue Haushofmeister, nicht wahr?“
„Nun, ähm, ja, der… Der bin ich…“
„Oh schön dass sie hier sind, aber wir hatten sie, ehrlich gesagt, schon viel früher erwartet.“
Madame Pottine sah ihr Gegenüber mit dem für sie so typischen mütterlichen Lächeln an und Herr von Unruh schien vor lauter Aufregung nicht einmal zu bemerken, dass sie Englisch sprach.
„Oh, ja, das… Das tut mir leid, ich war… Es ist… Etwas Unvorhergesehenes passiert, was meine Anreise ein wenig… Verzögert hat…“
„Oh, machen sie sich darüber keine Sorgen, es wird sich schon alles klären. Aber um Himmels willen, sie sind ja nass bis auf die Knochen Monsieur! Kommen sie erst mal rein und wärmen sie sich auf, sie holen sich ja sonst noch den Tod!“
„Vielen Dank, Madame... Ähm.“
„Pottine. Harriet Pottine. Haushälterin seiner Majestät und zuständig für alle Bediensteten im Haus. Nun ja, bis heute.“
Sie lächelte ihr sanftes, mütterliches Lächeln und führte den Mann in die große Eingangshalle, wo sich dieser, sichtlich überwältigt von der schieren Größe des Raumes, staunend umsah.
„Ihr wart noch nie in einem Haus wie diesem, nehme ich an?“
„Nun ich… Ich habe bereits an großen Höfen gedient, falls ihr das meint, aber… Am Hofe eine Königs… Das… Das ist schon etwas anderes…“
„Das ist es allerdings, aber macht euch keine Sorgen, ich bin mir sicher, ihr habt euch in kürzester Zeit hier eingelebt! Aber jetzt kommt erst einmal mit in die Küche, dort könnt ihr Euch am Feuer wärmen und ich mache uns eine gute Tasse englischen Tee!“
„Das… Klingt ganz vorzüglich.“
Er lächelte und die Haushälterin wusste, dass sie sich sehr gut verstehen würden. Doch bevor sie sich Richtung Küche aufmachten, sprach sie der Hausdiener an.
„Madame Pottine, soll ich seine Majestät über die Ankunft…“
„Um Himmels willen, nein!“, unterbrach sie ihn sofort, darum bemüht nicht zu laut zu sprechen. Doch Herr von Unruh war einige Schritte entfernt und schien damit beschäftigt, die kunstvolle Halle näher zu betrachten.
„Du hast erlebt in was für einer Laune unser König heute wieder ist und der arme Kerl ist schon nervös genug. Er soll sich erst einmal ein wenig ausruhen und sich zurechtfinden, bevor er auf seine Hoheit trifft.“
„Ja, aber… Seine Majestät hat doch ausdrücklich gesagt…“
„Ich weiß, was er gesagt hat, es war ja laut genug!“
Ihre Stimme klang gereizt, doch als sie den besorgten Gesichtsausdruck des Jüngeren sah, wurde ihr Ton milder.
„Mach dir keine Gedanke, ich Regel das schon. Aber jetzt sei so gut und sorg dafür, dass Herr von Unruhs Sachen auf sein Zimmer gebracht werden.“
Sie deute auf den großen Koffer, der immer noch auf der Türschwelle stand und der Diener nickte.
Damit wandte sie sich um, ging zum wartenden Herrn von Unruh herüber und meinte lachend, während sie ihm freundschaftlich eine Hand auf die Schulter legte:
„Nun kommt, mein Lieber. Ihr sollt nicht länger auf euren Tee warten müssen.“
Damit schob sie ihn schon fast vor sich her in einen der Flure, der tiefer in das gewaltige Schloss führte, welches nun auch sein Zuhause sein sollte.
Die Küche schien fast wie ein völlig anderer Ort, jenseits der anmutigen Stille, die im Rest des Schlosses zu herrschen schien. Ein fast überwältigender Lärm schlug Madame Pottine und ihrem Begleiter entgegen und es schien ihr, als würde dieser am liebsten auf dem Absatz kehrt machen wollen. Doch sie lächelte nur, packte ihn kurzerhand am Arm und buxierte ihn mitten durch das geschäftige Treiben. Schier unzählige Leute waren damit beschäftigt das Abendessen vorzubereiten, es wurde durcheinander gerannt und Töpfe, Teller, Zutaten und Utensilien von A nach B getragen. Und über allem herrschte diese fast unerträglich laute Mischung aus dem Geklapper von Töpfen, dem klirren von Geschirr und Messern und den Unzähligen Rufen und Befehlen, die von einem Ende der Küche zum anderen schallten.
Sie hielten auf den hinteren Teil der Küche zu, wo von Unruh durch eine offene Tür eine großen Tisch und eine kleine Feuerstelle sehen konnte. Doch kurz bevor sie dort ankamen, wurden sie durch einen lauten Ruf aufgehalten.
„Hey, Harriet! Was schleppst du da für einen nassen Hund durch meine Küche!“
Madame Pottine blieb stehen und verdrehte genervt die Augen, ehe sie sich umdrehte und denjenigen strafend ansah, der dort gerufen hatte. Es war ein großer, grobschlächtiger Kerl, der sich nun mit grober Kraft einen Weg durch die Menge an Bediensteten bahnte. Als er bei der Haushälterin und ihrem Begleiter ankam baute er sich vor ihr auf, verschränkte die kräftigen Arme vor der Brust und sah die beiden von oben herab an.
„Nun?“
Madame Pottine ließ sich in keinster Weise einschüchtern und meinte nur kopfschüttelnd:
„Du bist mal wieder ein großartiges Beispiel für einen guten, ersten Eindruck, Frédéric. Ganz zu schweigen von deinen vortrefflichen Manieren…“
Sichtlich verärgert ob dieser offensichtlichen Schelte, baute sich der Mann nur noch mehr auf, während die übrigen Anwesenden ihre Arbeit vernachlässigten um der Szene gebannt und aufgeregt murmelnd zu zusehen. Herr von Unruh aber wurde sichtlich nervös und wollte ein paar Schritte zurücktreten um von dem ungehaltenen Mann ein wenig Abstand zu haben, doch Madame Pottine hielt ihm am Arm fest und verhinderte so seinen strategischen Rückzug.
„Außerdem sollte du etwas mehr Respekt zeigen!“
Madame Pottine baute sich nun ihrerseits vor dem Mann auf und Herr von Unruh kam nicht umhin, sie für ihren Mut zu bewundern.
„Ach, wirklich?“
Mit einem abschätzenden und sichtlich herablassenden Blick sah er auf von Unruh herab und es war ihm deutlich anzusehen, dass er diesen Fremden abgrundtief verachtete. Zugegeben, der Neuankömmling machte keine allzu gute Figur, wie er dort so verloren, klitschnass und vor Aufregung und Kälte am ganzen Leib zittern inmitten der überfüllten Schlossküche stand.
Seine zerschlissene Jacke, die zerrissen Hose und die schlammbedeckten Schuhe trugen zusätzlich dazu bei, dass er einen ziemlich bemitleidenswerten Anblick bot. Und das ließ ihn sein Gegenüber nur zu deutlich spüren.
„Und wieso sollte ich das?“
Oh, von Unruh hatte überhaupt kein gutes Gefühl bei der ganzen Sache. Und nicht zuletzt überkam ihm Zweifel, ob es wirklich eine gute Idee gewesen war hier zu kommen um den Posten des Haushofmeisters zu übernehmen. Wie sollte er jemals den Respekt der Bediensteten bekommen, für die er in Zukunft verantwortlich war, wenn seine Ankunft doch so eindeutig unter keinem guten Stern stand? Aber er hatte keine Zeit weiter darüber nachzudenken, denn Madame Pottine hatte erneut das Wort ergriffen.
„Zum einen, weil du dich mit mir anlegst, wenn du es nicht tust…“
Der Mann schien ungerührt, doch von Unruh hatte bemerkt wie er kurz, wenn auch kaum sichtbar, zusammengezuckt war.
„…und zum anderen weil Herr von Unruh als Nachfolger von Monsieur Ponctuel der neue Haushofmeister und damit dein… Unser aller Vorgesetzter ist!“
Ein Raunen ging durch die Menge der Anwesenden und von Unruh spürte, wie ihm ein kalter Schauer über den Rücken lief. Er spürte wie sich nun endgültig alle Blicke auf ihn richteten, er hörte das Aufgeregte Gemurmel, die Diskussionen und er sah den überraschten und Ungläubigen Blick des Mannes vor ihm. Am liebsten wäre er ihm Erdboden versunken, oder hätte zuerst die Küche, dann das Schloss und am besten noch das Land fluchtartig verlassen, aber weder das eine, noch das andere war ihm im Augenblick möglich. Und so blieb ihm nichts anderes üblich als abzuwarten was nun geschehen würde und das Beste zu hoffen…
Doch zu seinem Glück und seiner Erleichterung übernahm Madame Pottine erneut das Ruder und meinte nun bestimmt:
„Aber nachdem das ja nun geklärt ist schlage ich vor, das sich jetzt wieder alle an ihre Arbeit machen. Oder wollt ihr riskieren das seine Majestät auf sein Abendessen warten muss?“
Unter entsetztem Aufraunen und panischen Aussprüchen zerstreute sich die Menge sofort in der ganzen Küche, die nur Augenblicke später in derselben Klangkulisse ertrank wie beim Eintreffen der Haushälterin und des neuen Haushofmeisters. Madame Pottine aber nutzte diese Aufregung und zog Herrn von Unruh auf die Tür zum Nachbarzimmer zu, buxierte ihn hinein und lies hinter sich die Tür ins Schloss fallen.
Für einen Moment stand der Mann wie vom Donner gerührt im Raum und wusste nicht was er tun oder sagen sollte, als Harriet an ihm vorbei zu der kleinen Feuerstelle ging und einen Kessel Wasser aufsetzte. Dort blieb sie einen Moment stehen und starrte in die Flammen, ehe sie sich ihrem Begleiter zuwandte und ihn mitfühlend anlächelte.
„Setzt Euch, mein Lieber, ich bereite schon mal den Tee. Und.. Oh Grund Gütiger, sie haben ja immer noch die nassen Sachen an! Kommen sie, ich helfe ihnen aus der Jacke, die kann am Feuer trocknen und… Hier, setzt euch hier ans Feuer, ihr werdet mit ja noch krank!“
Ohne das Herr von Unruh auch nur die Chance hatte etwas zu sagen, hatte die resolute und zeitgleich so führsorgliche und liebenswerte Dame ihm die Jacke ausgezogen, diese über eine Stuhllehne gehängt, einen weiteren Stuhl an die Feuerstelle herangezogen und ihn darauf postiert. Jetzt wuselte sie durch den kleinen Raum, der wohl so etwas wie ein Esszimmer für die Köche und Küchenhelfer war und ehe der Neuankömmling sich versah, standen Tassen, Löffel, Zuckerdose und Milchkähnchen auf dem nahen Tisch. Dann entschuldigte sie sich kurz und verschwand, einen sichtlich verwirrten und völlig überforderten von Unruh zurücklassend.
Für einen Augenblick saß er nur still da, dann aber seufzte er resigniert und fuhr sich mit der Hand durch seine immer noch Tropfnassen Haare.
„Irgendwie hatte ich mir meine Ankunft hier anders vorgestellt…“, dachte er betrübt, während er auf seine Hände starrte, die erneut zitterten. Er ballte die Fäuste um das Zittern zu unterdrücken, doch dieses ergriff nun seinen ganzen Körper. Er hatte das Gefühl alles lief schief und bei dem Glück das er bisher hatte würde er wohl seine Position schneller wieder verlieren, als er es sich gedacht hatte. Denn wieso sollte ihn die Dienerschaft jemals als ihren Vorgesetzten akzeptieren, nachdem er so einen erbärmlichen ersten Eindruck hinterlassen hatte? Von sich selbst bitter enttäuscht ließ er den Kopf hängen und schloss die Augen, als er von einer Berührung aufgeschreckt wurde. Es war Madame Pottine, die, ohne dass er es bemerkt hatte zurückgekehrt war und ihm nun vorsichtig eine Decke um die Schultern legte.
„Hier, damit dir wieder warm wird.“, sagte sie mit sanfter Stimme und sah ihm mit einem so verständnisvollen Lächeln an, das er vor Rührung schlucken musste. Sie aber ergriff nur eine seiner Hände und drückte sie sanft, ehe sie sich dem Wasserkessel zuwandte, der soeben zu pfeifen begonnen hatte. Nur wenig später hatte sie den Tee aufgegossen, der, wie von Unruh mit großer Freude feststellte tatsächlich von Englischer Art war und reichte ihm eine Tasse.
„Thank you. … Ich… Ich meine… Merci.“
„Ist schon gut. Wir können gerne Englisch reden, wenn wir unter uns sind. Ich denke, das wird Ihnen das eingewöhnen ein wenig erleichtern, bis Sie… Nun ja, bis ihr Französisch ein wenig besser geworden ist.“
„Ist… Ist das so auffällig?“, fragte er nervös, wobei er merkte wie er vor Verlegenheit rot wurde. Sie aber lachte leise, aber nicht unfreundlich und meinte nur: „Nun ja, ihre Herkunft können sie auf jeden Fall nicht verleugnen.“
Er schmunzelte ob dieser Aussage, sichtlich froh darüber jemanden gefunden zu haben der ihn verstand, nicht zuletzt weil sie durch ihre Herkunft etwas hatten das sie verband.
So saßen sie schließlich schweigend da und genossen den Tee, doch Madame Pottine merkte schnell, dass ihr Gegenüber etwas bedrückte. Mitfühlend legte sie ihre Hand auf seine, sodass er von seiner Tasse aufsah, in die er die letzten Minuten Gedankenverloren gestarrt hatte.
„Ist alles in Ordnung?“
Er schwieg, aber es war ihm anzusehen, dass er mit sich rang, ob er ihr seine Sorgen erzählen sollte. Er kannte sie kaum und außerdem…
„Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Ich weiß der Tonfall kann hier mitunter etwas rau sein, aber… Alles ihm allem, halten wir doch immer alle zusammen. Wir… Wir sind hier so etwas wie eine große, bunte Familie.“
Sie lächelte und Herr von Unruh spürte, wie seine Sorgen ein wenig leichter wurden, auch wenn er ihr doch gar nichts erzählt hatte. Aber dann schien sie es, die etwas besorgte, den als sie weitersprach, wurde ihr Gesicht ernst.
„Es gibt nur eines, worum sie sich in diesem Haus wirklich Sorgen machen müssen. Und das sind die Launen unseres Herrn, des Königs…“
„Die Launen des… Was meinst ihr damit?“
Henry konnte nichts dagegen tun, er wurde erneut von Unruhe und Sorge ergriffen. Harriet aber seufzte nur traurig.
„Er ist sehr… Wankelmütig. Mitunter sogar Jähzornig. Es ist auf jeden Fall keine gute Idee, sich ihm entgegen zu stellen, oder seine Befehle zu misachten.“
Henry schluckte. Das klang nach allem anderen als einer leichten Aufgabe.
„Außerdem achtet er penibel auf Pünktlichkeit und…“
„Pünktlichkeit?!“
Henry sprang entsetzt auf.
„Um Himmels willen, ich bin mehrere Stunden zu spät gekommen und habe mich nicht einmal bei ihm gemeldet!“
Völlig außer sich vor Entsetzen begann er im Raum gehetzt auf und ab zu gehen.
„Was wird er von mir denken? Und wenn er mich so sieht, dann wird er… Er wird…“
„Langsam, mein Lieber, langsam!“
Auch Harriet war aufgesprungen, doch nur um den aufgebrachten Mann am Arm zu packen und mit sanfter Gewalt festzuhalten.
„Macht Euch darüber keine Sorgen, ich werde das schon regeln.“
„Sie?“
„Ja, ich. Ich bin schon etwas länger hier und weiß genau wie ich mit seiner Hoheit umzugehen habe. Ich schlage also vor, ich bringe sie zu ihrem Zimmer und dann ruhen sie sich erst einmal aus. Und morgen werden sie dann ihren Dienst antreten, frisch und ausgeruht und…“
Sie lächelte verschmitzt, „…Nicht so durchnässt.“
Er stutze einen Moment, aber dann musste er doch lachen.
„Sie haben Recht, Madame Pottine, So kann ich mich wirklich nicht dem König präsentieren.“
„Genau. Ach und mein Lieber, würdest du mir einen Gefallen tun?“
„Welchen, Madame?“
„Nenn mich Harriet. Das dürfen zwar nur die wenigsten, aber… Bei dir mache ich eine Ausnahme.“
Henry merkte wie er rot wurde, so einen Vertrauensbeweis hatte er nicht erwartet, schon gar nicht nach seinem ersten Tag hier im Schloss.
„Nun, ich… Gerne. Allerdings… Nur wenn du… Mich Henry nennst. Nun ja, wenn… Wir unter uns sind!“, fügte er schnell hinzu.
„ich meine, ich bin schließlich der neue Haushofmeister und mit dieser Pflicht, ich meine…“
Madame Pottine lächelte milde, ehe sie ihn zur Tür führte.
„Ich verstehe schon was du meinst. Aber jetzt komm, ich habe deine Sachen schon auf dein Zimmer bringen lassen. Morgen früh zeige ich dir das Schloss, damit du auch über alles Bescheid weist.
„Danke. … Harriet.“
„Gern geschehen.“
Damit öffnete sie die Tür und erneut schlug ihnen der Küchenlärm entgegen, ehe sich dir Tür hinter ihnen schloss.
Rückblick Ende.
Lumiere brauchte einen kleinen Augenblick ehe er das gehörte ganz begriffen hatte, doch dann lächelte er.
„So war das also?“
„Ja, so war das. Und es dauerte nicht lange ehe Henry und ich Freunde wurden, nicht zuletzt, da wir uns jede Woche an einem Abend zusammen setzten, um Geschichten aus der alten Heimat zu teilen, englischen Tee und Gebäck zu genießen und nicht zuletzt unsere Muttersprache zu pflegen.“
Lumiere schwieg einen Moment, ehe er sichtlich bedrückt sagte: „Dann muss die ganze Geschichte sie doch noch viel mehr betroffen haben als mich! Und ich stehe hier in der Küche und beschwere mich und…“
Er schien den Tränen nahe doch schon spürte er Madame Pottines Hand auf seiner und als er aufsah, konnte er deutlich die Güte und Ihr Verständnis ihn ihren Augen sehen.
„Nicht doch, Lumiere. Henry und du, ihr teilt eine Freundschaft einer ganz anderen Art als er und ich. Ihr zwei, ihr seid euch so nah wie Brüder. Und du hast nun einmal eine ganz andere Art mit deinen Sorgen und deinem Kummer umzugehen als ich.“
Sie lächelte und wartete einen Moment, doch als Lumiere nichts dazu sagte, fuhr sie fort: „Du willst ihm helfen, ihm beistehen und du bist betrübt, weil der Plan den du hattest ihm Augenblick nicht funktioniert. Aber ich bin mir sicher, das dir noch etwas anderes einfällt, als nur deine Kochkunst.“
„Ja aber… Ich habe es ihm doch versprochen!“, brachte Lumiere sichtlich frustriert heraus, worauf die Haushälterin amüsiert auflachte.
„Aufgeschoben ist nicht aufgehoben! Aber bis es soweit ist, versuch einen anderen Weg zu finden, Henry deinen Beistand auszudrücken.“
„Nun, ich… Ich könnte… Ich werde mir etwas einfallen lassen!“
Schon war der junge Mann aufgesprungen und während er jetzt aus der Küche sprang, strahlte er über das ganze Gesicht.
„Danke Madame Pottine!“, rief er noch als er schon halb aus der Tür war, doch sie lächelte nur und meinte Kopfschüttelnd: „Kindsköpfe, alle miteinander…“
*Kommt mit einem frisch gebrauten Heiltrank in den Raum* Keine Sorge, Cogsworth wird wieder schnell auf den Beinen sein.