literature

Die perfekte Welt

Deviation Actions

imaginaryverythought's avatar
Published:
688 Views

Literature Text

Es ist exakt 482 Jahre her, dass die Forscher der Namesun die Göttin aus der Umgebung, dem Wasser, der Luft und der Erde extrahierten, sie in einen physischen Körper sperrten und ihre Macht nutzten, unsere Welt besser zu machen. Es ist exakt 482 Jahre her, dass kein Mensch mehr sterben musste, keine einzige Katastrophe uns traf und die Menschen gut wurden.
Ich habe Geschichten gelesen, die von sogenannten >Mördern<, >Dieben< und anderen schlechten Menschen berichten. Geschichten, die von diesem Grauen namens Krieg erzählen und von den fürchterlichen Dingen, die sich Menschen einst angetan haben. Massen-, Serien- und Amokmörder. Ich habe so viel gelesen über die schlimmen Ängste, die einen damals befallen haben müssen.
Ich habe Sagen gehört, die einst Alte den Kindern erzählt haben. Sagen von Krankheiten, die den Körper, den Geist und den Mut hinwegraffen. Die fürchterliche Schmerzen herbeirufen und die einen selbst zu verzerren, dass man die Liebsten nicht wiedererkennt und sie selbst einen auch nicht.
Ich habe versucht, mir eine Welt vorzustellen, in der ein dummer Unfall dazu führen kann, dass dieses einzige, unschätzbar wertvolle Leben für immer endet. Ich habe versucht mir vorzustellen, wie viel Angst die Menschen in dieser Zeit haben mussten, denn jeder Schritt, jeder Atemzug, jeder falsche Blick konnte den Tod bringen. Das unwiderrufliche Ende allen Seins. Ich habe versucht mir vorzustellen, wie der Gedanke sein muss, dass Nichts kommt. Dass einen Nichts erwartet. Ich habe es versucht, aber nicht vermocht.
Ich habe mir all das vorgestellt und spüre nichts als einen Funken, einen sachten Keim von Sehnsucht. Ich sehe, dass den Menschen etwas fehlt. Natürlich sind sie kerngesund. Sie müssen keinen Tod fürchten, keinen Schmerz, keine Gewalt. Doch was ist es, was uns fehlt, seit wir gerettet wurden? Was ist geschehen, als die Göttin die Welt zu einem Punkt hin verließ? Und warum... fühle ich mich nicht, als habe man mich vor etwas Schrecklichem bewahrt?
Ich lebe seit 73 Jahren und bin noch immer jung. Ich habe viele Jahre meines viel zu langen Lebens damit verbracht, mich zu trainieren, vorzubereiten. Ich stehe vor der Tür, die mein Schicksal bedeuten soll. Ich stehe in dem tiefsten Keller der Namesun, im dunkelsten Winkel dieser hellen Welt.
Ich darf die Göttin treffen. Natürlich nicht, um mit ihr zu reden. Sie redet nicht mehr mit den Menschen, heißt es. Mein Beruf ist es, ihre Kraft zu nutzen. Ich nehme sie durch Hautkontakt in mich auf, dann werde ich für zwei Wochen schlafen gelegt. Während der Schlafphase wird die Energie genutzt, die ich von ihr bekommen werde. Wie das funktioniert sagt mir, obwohl ich soweit vorgedrungen bin, immer noch keiner.
Die Tür öffnet sich. Es ist Niemand hier, Niemand außer mir und dem hellen Schimmern, das in meinen Augen sticht.
„Mutter...", flüstere ich, obwohl ich nicht einmal weiß, ob sie noch hören kann, nachdem sie sich doch entschieden hat, nicht mehr zu sprechen. Nachdem sie die Augen von der Welt abwendete, die sie einst allein geschaffen hat.
Ich wiederhole die Anrede noch einmal. Ich habe so viel gelesen. Mutter Natur. Väterchen Frost. Gott. Göttin. Götter. Energie. Macht. Allmacht. Universum. Materie. Ach, es gab früher so viele Namen, so viele Arten an sie zu glauben und so viele Möglichkeiten, den Glauben an sie zu verneinen. Es war Freiheit. Und doch sind wir die Schlimmsten von allen. Denn wir missbrauchen die, die uns schuf.
Kopfschüttelnd betätige ich das Sicherheitsschloss. Ich schließe meinen Phasenverschieber an und hoffe inständig, dass diese Erfindung meinerseits funktioniert. Währenddessen frage ich mich tatsächlich ob ich vielleicht der erste schlechte Mensch seit langer, wirklich langer Zeit bin.
Die Tür schließt. Wie benommen wende ich mich um und betrachte sie. Ihr weißes Haar ist unbegreiflich lang. Es windet sich an dem hohen, weichen Lehnstuhl hinab, kräuselt sich in viele kleine Ringe und verschwindet im Schatten. Es wirkt mehr wie dünne Fäden von Silber, statt wie Haar. Ihre Augen sind weiß, entrückt, blicklos. Fast, als habe sie sich  entschlossen auch blind zu sein.
„Mutter, bitte höre mich an.", flehe ich, meine Brust steht in Flammen. Es ist, als könne sie mich hören. Die Pupillen weiten sich kurz, ehe sich die Augen ohne eine weitere Bewegung der grazilen, unter vielen Schichten von dünnen Stoffen verborgenen Gestalt auf mich richten.
„Die Welt... alle nennen die Welt perfekt. Sie nennen sie leidlos, schmerzlos, frei und voller Liebe." Ich hasche mit allem was ich habe, mit meinem Atem, meinen Augen, nach einer Regung ihrerseits, doch sie sieht mich nur an. Sie ist unschlüssig, stelle ich fest. Was ich sagen will, ob ich wirklich etwas sagen will. Ob sie sprechen oder wieder in der Tiefe ihres Dahinvegetierens verschwinden soll.
„Aber sie ist nicht perfekt. Ich wache jeden Morgen auf und habe das Gefühl, als wüsste ich nicht, was Glück ist. Als wüsste ich nicht, wer ich bin, was diese Welt ist, was wir sind. Sie ist nicht perfekt. Etwas fehlt. Wir fehlen. Mutter, wir gehen verloren. Du hast alles erschaffen. Meinen Atem, meinen Körper, jede Pflanze, jedes Tier."
„Ihr habt sie deformiert."
Ich stocke. Sie hat gesprochen. Ihre Stimme ist warm und tatsächlich mütterlich, wenn auch nicht tief und leicht in der Ferne hallend.
„Bitte, Mutter, erklär mir, was ich tun soll. Erklär mir, was nicht stimmt."
Sie streckt die Hand nach mir aus. Ich erbebe, denn ich weiß, was immer auch geschieht, so viele vor mir haben sie berührt, um ihre Energie zu erhalten. Dennoch gebe ich ihr nach. Warum sollte sie mir Leid zufügen, der einzige, der ihr bisher Worte widmete, die wirklich gehört werden wollten?
Ihre Berührung zieht mich nach vorne, hinein in ihre warmen Arme, hinein in eine alles umschlingende, verschlingende Umarmung. Und ich sehe die Welt, wie sie einst war. Eine Welt, zerrissen von Anspannungen, aber auch von unbändigem Lachen inmitten des Leids. Hungernde Kinder, die sich aus Gummistreifen von Lkw-Reifen und ein bisschen Unrat einen Ball gefertigt haben und die trotz ihres Schmerzes tollend durch die Straßen ziehen. Und ich höre Mutters Stimme.
„Ohne Leid könnt ihr nicht erkennen was Freude ist. Ohne Tränen wisst ihr das Lachen nicht zu schätzen.  Ohne Unglück, wisst ihr nicht, wann ihr Glück habt im Leben. Ohne Schmerz werdet ihr nie Mitgefühl erlernen. Ohne den Hass wisst ihr nicht, was wirklich Liebe ist. Ohne den Tod erkennt ihr nicht, wie wertvoll euer Leben ist."
Ich spüre ihre Tränen auf meiner Wange. Sie liebt mich. Sie liebt jeden von uns. Ich weine mit ihr. Ich bemerke gar nicht, wie mir die Tränen kommen, aber sie sind da, plötzlich und unbändig. Man hat uns alles gegeben und uns damit alles gestohlen!
„Ihr führt ein perfektes, schmerzfreies Dasein, doch damit habt ihr den Kampf, das Streben nach mehr verloren. Ihr wisst nicht was Freude, Glück und Liebe sind. Ihr wisst nicht, was es bedeutet, den Tod im Nacken jede Sekunde zu genießen."
„Wie... wie kann ich all das ändern?"
Sie berührt mein Gesicht, ich fühle mich durch ihre lange Berührung mittlerweile, als würde ich unter Flammen stehen. Es ist so heiß, doch es verbrennt mich nicht.
„Lass mich frei. Geh einfach. Sie werden es nicht bemerken." Und dann fällt sie im Stuhl zurück, die Hände plötzlich faltig und schwach, zitternd. Ich renne. Ich spüre sie in mir, wie sie durch mich fließt, wie sie in mir bebt, nach außen zu dringen versucht. Ich dränge zurück, reiße die Tür auf.
Eine Traube von Namesuns steht dort, alle starren mich an, aber ich drücke mich an ihnen vorbei. Keiner erwartet, dass ich etwas tun könnte, was ihnen nicht gefällt. Alle Menschen sind gut. Alle Menschen sind zufrieden. Aber glücklich, denke ich verzweifelt, glücklich sind wir nicht.
Gänge und Windungen, ich kenne sie auswendig, ich weine noch immer, doch wer beachtet es schon? Es ist nur Wasser, kaum einer weiß noch, wie Tränen aussehen. Ich stürme ins Tageslicht hinaus, bereite mich auf die strahlende Sonne vor, als ich spüre, wie sie sich aus mir herausreißt. Sie verliert das von Menschen gegebene Geschlecht, sie löst sich auf, verteilt sich wie ein enormer Schwarm über der Umgebung. Sie fährt in Blumen, in die Erde, in Tiere und in Menschen. Alles was sie berührt wirkt, als wäre es mit einem hellen Schein durchzogen. Ich breche zusammen. Ich bin so müde. Ich bin so alt. Ich bin so... glücklich. Die Welt wird normal. Ich bin nichts als ein alter Mann.
Als ich aus dem Schlaf aufschrecke, betrachte ich mich im Spiegel. Die Falten sind tiefe Täler, die mein Leben gezeichnet hat. Jedes Lachen, jedes Stirnrunzeln hat sich in meiner Haut verankert. Mein Körper zeigt, wie voll ich dieses Leben gelebt und wie sehr ich jede noch so traurige Sekunde geliebt habe.
Die Göttin... das Wesen... ich habe keinen Namen mehr dafür. Aber es ist frei. Es war nie gefangen. Diese Welt ist voller Schmerz und Schrecken. Voller Angst und Trauer. Aber sie ist beinahe perfekt wie sie ist. Und vielleicht, vielleicht werden die Menschen ja trotzdem etwas besser.
Ein Utopie/Surrealismus Wettbewerb. Ich habe mich anfänglich etwas schwer damit getan, weil Surrealismus frei übersetzt eine Überwirklichkeit ist, die stattfinden kann, während Utopien ja deswegen Utopien sind, weil sie als nicht umsetzbar gelten.

Ich habe mich letztendlich aber an einen meiner liebsten Gedankengänge zu dem Thema gesetzt. Der Wert des Lebens und auch der Wert des Schmerzes.
© 2012 - 2024 imaginaryverythought
Comments27
Join the community to add your comment. Already a deviant? Log In
Kite-7's avatar
:heart: Eine wirklich schöne Geschichte! Und so wahr, wie soll man etwas wertschätzen, wenn man nie erlebt hat, es nicht zu haben? Auch die Vergänglichkeit hat ihre Vorteile. :)